Erdbeben in Istanbul - Sorge vor weiteren Beben steigt
Menschen eilen aus den Häusern, manche springen vor Panik aus den Fenstern, andere bleiben gelassen und trinken Tee - aber alle fragen sich: War es das, oder steht das große Beben noch bevor?
13 Sekunden reichen, um Millionen Menschen in Panik zu versetzen. 13 Sekunden, die sich für viele Bewohner Istanbuls wie eine Ewigkeit anfühlen, weil gewaltige Kräfte die gesamte Stadt erschüttern.
Notunterkünfte stehen bereit
Nach dem schweren Erdbeben sind rund 101.000 Menschen in Istanbul mittlerweile in Notunterkünften wie Schulen, Moscheen und Logistiklagern aufgenommen worden. Das teilte der türkische Innenminister Ali Yerlikaya auf einer Pressekonferenz mit. Bislang sind laut Städteministerium rund 1.400 Schadensmeldungen an Gebäuden registriert worden - rund 1,5 Millionen Bauten werden demnach im Falle eines starken Erdbebens als "riskant" eingestuft.
236 Verletzte
Nach Angaben von Gesundheitsminister Kemal Memişoğl auf der Plattform X gab es insgesamt 236 Verletzte - davon 173 in Istanbul, die übrigen in anderen Provinzen. Bei dem Beben der Stärke 6,2 ist die Stadt noch glimpflich davongekommen, es gibt laut Innenministerium keine Toten. Was aber, wenn ein noch stärkeres Beben folgt, wie Experten befürchten? Der Katastrophendienst Afad meldete am Morgen danach schon weitere Nachbeben, darunter eines der Stärke 4,1.
Menschen verbringen Nacht draußen
Nach den Erdbeben steht die Bevölkerung weiter unter Schock. Zahlreiche Menschen verbrachten die Nächte im Freien und schlugen etwa in Parks oder auf anderen Grünflächen Zelte auf, wie türkische Medien berichteten. Das Beben hat keinen größeren Schaden angerichtet - aber die Angst vor weiteren Beben ist groß. Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus - das am dichtesten besiedelten Gebiet des Landes - nicht als erdbebensicher.
Zeit, Istanbul zu verlassen?
Über die Frage, was mit Blick auf ein weiter drohendes größeres Erdbeben zu tun sei, sagte Geologe Celal Sengör von der Technischen Universität Istanbul in einem Interview, es sei zunächst bedenkenlos möglich, in Häuser ohne offensichtliche Schäden zurückzukehren. Langfristig gesehen aber sei nun "der Zeitpunkt erreicht, Istanbul zu verlassen". Sengör zog mit dieser Aussage umgehend Kritik von der regierenden AKP auf sich. Ein Chefberater von Präsident Recep Tayyip Erdogan nannte Sengör nach dessen Aussage in einem Beitrag auf X einen "Idioten".
Angst vor dem großen Beben
Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein weiteres starkes Beben folge, sagt der Geologe Okan Tüysüz dem Sender NTV. Das Hauptbeben werde noch kommen, schreibt Erdbebenforscher Naci Görür auf der Plattform X. Im Marmarameer verläuft eine tektonische Plattengrenze. Die aktuellen Erschütterungen erhöhten die Spannungen dort zusätzlich, so Görür. Wann das große Beben die Megametropole trifft, ist ungewiss. Aber, dass es kommt, ist laut Experten sicher.
Kritik am Katastrophenschutz
Trotzdem gilt die Stadt als schlecht vorbereitet. Schon bald wird Kritik in sozialen Netzwerken laut: Istanbul sei total verbaut, selbst Freiflächen, die eigentlich für solche Notfälle gedacht sind, seien nicht zugänglich, manche sogar mit Zäunen abgeriegelt, heißt es in den Posts.
Die oppositionsnahe Nachrichtenagentur Anka berichtet, die Polizei habe Menschen verjagt, die im zentralen Gezi-Park Zelte aufschlagen wollten, um nicht zurück in ihre Wohnungen zu müssen.
"Es gibt einfach keine Garantie für die Sicherheit der Infrastruktur", sagt eine junge Deutsche, die in der Metropole am Bosporus arbeitet, der dpa. "Die Stadt ist einfach nicht auf Erdbeben vorbereitet, weder hinsichtlich der Bausubstanz noch was die Sicherheitsmaßnahmen betrifft." Eine Warn-SMS beispielsweise hätten viele nicht erhalten, obwohl es ein solches System gibt.
Infrastruktur bislang intakt
Laut dem Istanbuler Gouverneursamt gab es keine eingestürzten Wohnhäuser; lediglich ein leerstehendes Haus im Bezirk Fatih soll eingestürzt sein. Verkehrsminister Abdulkadir Uraloğlu schreibt auf der Plattform X, es seien bei einer ersten Bestandsaufnahme keine Schäden an Straßen, Flughäfen, Zügen und U-Bahnen festgestellt worden. Städtebauminister Murat Kurum sprach am Abend von zwölf vorsorglich evakuierten Gebäuden. Die türkische Fluggesellschaft Turkish Airlines teilte mit, die Preise für alle Inlandsflüge würden auf maximal 1750 Türkische Lira (rund 40 Euro) begrenzt. Auch könnten, wenn nötig, weitere Flüge eingesetzt werden - für jene, die die Stadt so schnell wie möglich verlassen wollen.
Imamoglu: Kann an diesem schweren Tag nicht bei euch sein
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sicherte den Bürgern am Mittag zu, der Katastrophendienst Afad, das Gesundheitsministerium und alle weiteren staatlichen Institutionen seien in voller Alarmbereitschaft. "Wir beobachten die Situation genau", schrieb er auf der Plattform X mit.
Auch der inhaftierte türkische Oppositionsführer und abgesetzte Bürgermeister Istanbuls, Ekrem Imamoglu, meldete sich auf X zu Wort. An die Istanbuler gerichtet äußerte er seine Trauer darüber, "an diesem schweren Tag nicht bei euch sein zu können". Er appellierte an Einheit, Zusammenhalt und Solidarität im Kampf gegen die Naturkatastrophe.
Immer wieder katastrophale Erdbeben
Die Türkei hat leidvolle Erfahrungen mit Erdbeben. Anfang 2023 kamen bei zwei verheerenden Beben der Stärke 7,7 und 7,6 in der Südosttürkei und dem Norden Syriens Zehntausende Menschen ums Leben, allein in der Türkei gab es 53.000 Opfer. Das letzte starke Beben nahe Istanbul gab es im Jahr 1999 - damals starben mehr als 18.000 Menschen.
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