Flucht nach Deutschland: So geht es Ukrainerin Zoryana Zhyvetska
Müssen raus, wir müssen raus - Ukrainerin über ihre Flucht nach Hessen
Als Raketen über Zoryana Zhyvetskas Haus fliegen, fasst sie den Entschluss, mit ihrer Tochter zu flüchten. Sie ist eine von vielen Ukrainern, die seit Russlands Angriffskrieg in Hessen leben. FFH-Reporter Marc Wilhelm hat die Ukrainerin getroffen und sie gefragt: Wie war es, ihre Heimat wegen des Krieges verlassen zu müssen, und wie geht es ihr jetzt in Deutschland? Zoryanas Geschichte - hier.
"Die wollen unsere Stadt zerstören." Das dachte die Ukrainerin Zoryana Zhyvetska, als am 13. März 2022 die ersten Bomben in der westukrainischen Stadt Lwiw einschlagen. Die 37-Jährige hat keine Zeit zum Nachdenken - nur eines ist klar: Sie muss ihre Tochter in Sicherheit bringen.
Seit diesem Tag ist fast ein Jahr vergangen, und Zoryana ist mit ihrer Tochter Bogdana (9) im südhessischen Darmstadt untergekommen. Im FFH-Interview erzählt sie, was man fühlt, wenn die Heimat bombardiert wird und man alles zurücklassen muss, um das eigene Leben zu schützen.
"Du musst aufstehen, der Krieg hat angefangen"
Als Zoryana in der Nacht des 13. März 2022 die Entscheidung treffen muss, zu flüchten, sind die Koffer bereits gepackt. Schon drei Wochen zuvor, als russische Truppen zum ersten Mal die Grenze überschreiten, hat sie die Vorbereitungen für eine mögliche Flucht getroffen. Sie erinnert sich noch genau an den Anruf ihrer Mutter in den frühen Morgenstunden: "Zoryana, du musst aufstehen, der Krieg hat angefangen."
"Der 24. Februar war ein tragischer Tag für uns", erzählt Zoryana heute. Sofort hatten ihr Freunde aus Deutschland, die sie aus ihrer Zeit als Au-pair in Darmstadt kennt, Hilfe angeboten. Aber vorerst bleibt sie bei ihrem Mann in Lwiw. "Wir schaffen das", sagt er, doch sie kann nachts nicht mehr schlafen, hat Angst vor der Bombardierung ihrer Stadt.
Als Zoryana und ihre Tochter flüchten, sind die Koffer schon gepackt
Was sie befürchtet, wird in der Nacht des 13. März wahr: Sie schreckt auf, als die Bomben in Lwiw einschlagen und ihr Haus erzittern lassen. Zoryana hat nur einen Gedanken: "Wir müssen raus, hier ist es nicht mehr sicher. Ich muss mein Kind rausbringen." Sie nimmt ihre Tochter und die gepackten Koffer; ihren Mann muss sie zurücklassen, denn er darf nicht ausreisen. Im Auto fährt sie nach Polen. Noch heute hat sie vor Augen, wie das Licht der russischen Raketen über sie hinwegfliegt.
Das erste Mal durchatmen kann sie hinter der polnischen Grenze. "Jetzt bin ich in Sicherheit", denkt sie, hat aber Gewissensbisse und überlegt, wieder zurückzukehren. Doch sie entscheidet sich, nach Deutschland zu fahren. Drei Tage später steigt sie mit ihrer Tochter in den Bus und kommt zunächst bei ihrer ehemaligen Gastmutter in Darmstadt unter. Bogdana sagt sie, sie würden "Urlaub machen".
Ständige Sorgen um die Familie in der Heimat
"Ich hatte das Gefühl, dass ich bald zurückkomme", erzählt Zoryana von der Nacht, in der sie mit ihren Koffern die Wohnung verlassen hat. Doch nun ist sie schon fast ein Jahr in Deutschland. Ständig denkt sie an ihre Liebsten in der Ukraine, hält Kontakt mit ihren Eltern und ihrem Mann, der jederzeit an die Kriegsfront gerufen werden könnte. Wie alle Männer ist er zum Militärdienst verpflichtet und darf nicht ausreisen. Er wartet auf den Brief, der ihn zur Musterung ruft. Ein entsprechendes Schreiben hat er aber noch nicht erhalten.
Jeden Tag liest Zoryana die Nachrichten aus ihrer Heimat und telefoniert mit ihrer Familie. Hört sie von neuen Luftangriffen, macht sie sich mehr Sorgen als die Menschen vor Ort. Mehrmals versucht sie ihre Mutter zu überreden, nach Deutschland zu kommen. "Wenn ich sterbe, sterbe ich in meinem Land", sagt aber ihre Mutter. Als der Kontakt während eines Bombenangriffs in Lwiw abreist, denkt Zoryanna: "Jetzt sterbe ich auch."
Die erste Zeit in Deutschland war schwer
Die neunjährige Bogdana vermisst ihren Papa und ihre Großeltern in der Ukraine, doch in Deutschland plagen sie weniger Ängste. Wenn in den Nächten vor ihrer Flucht die Luftarlarme losgingen, hat Bogdana geweint und schreckliche Angst gehabt. In der ersten Zeit in Deutschland hat sie sich darüber gewundert, dass es hier keine Alarme gibt. Wegen der Nähe zum Frankfurter Flughafen hat Bogdana zunächst der Lärm von Flugzeugen über Darmstadt beunruhigt - aber mittlerweile beruhigt sie ihre Mutter: "Mama, es ist nur ein Flieger", sagt das Mädchen, wenn Zoryana dann die Ohren spitzt.
Der Neuanfang in der deutschen Schule, einer Grundschule in Darmstadt-Eberstadt, war für Bogdana nicht einfach. Sie hat viel geweint, weil sie Angst hatte, die Sprache nicht zu verstehen und nicht wusste, was sie erwartet. Aber Zoryana sieht den Aufenthalt in Deutschland als Chance für ihre Tochter, eine neue Sprache und Kultur kennenzulernen. Bogdana hat schon Freundinnen gefunden, mit denen sie Deutsch übt. Sie turnt, tanzt und hat sogar schon Fasching gefeiert - eine ganz neue Erfahrung für die Drittklässlerin.
Die Zukunft ist ungewiss
In Darmstadt haben die beiden mittlerweile eine eigene Wohnung gefunden. Zoryana arbeitet als Betreuerin in einer Grundschule; sie ist ausgebildete Lehrerin. Außerdem engagiert sie sich in einem Familienzentrum für ukrainische Geflüchtete, wo sie bei Übersetzungen hilft. An Deutschland mag sie vor allem das Bildungssystem. Hier hat sie einige Ideen gesammelt, die sie nach ihrer Rückkehr im ukrainischen Schulsystem einbringen will. Sie hoffe darauf, dass der ukrainische Präsident Selenskyj irgendwann sagt, alle geflüchteten Bürger könnten in die Heimat zurückkehren, erzählt sie. Dann würde sie ihm am liebsten von ihren Ideen berichten.
Doch der Blick in die Zukunft ist ungewiss. Zoryana weiß nicht, wann sie mit ihrer Tochter heimkehren kann. Sie plant erst einmal, dass Bogdana die Grundschule in Darmstadt beendet. Für sie möchte sie die beste Zukunft: "Alles, was ich gemacht habe, habe ich nur für mein Kind gemacht", sagt die 37-Jährige. Seit der Flucht sei die Beziehung zwischen den beiden enger geworden: "Ich bin alles für sie, und sie ist alles für mich." Daraus schöpft Zoryana die Kraft, jeden Tag weiterzumachen.